
Führungsbilder, Führungsvorbilder und Führungshaltung
In den Artikeln, Büchern und Abhandlungen zu den Themen Agilität, Selbststeuerung und kontinuierliche Selbsterneuerung geht es mehrheitlich auch darum, Führung anders zu gestalten und zu begreifen. Es ist oft die Rede vom Führen auf Augenhöhe, dass Führen nicht Kümmern heißt und auch nicht eine Person den Takt für die Mitarbeitenden angibt oder die für sie plant und koordiniert. Die Führungskraft, die in der agilen Welt beschrieben wird, fordert heute die Rolle des Facilitators ein, die Rolle eines Ermöglichers bzw. interne Beraters, der zur Seite steht, jedoch nicht im hierarchischen Sinne vorgibt oder anordnet.
So gilt es loszulassen von hierarchischer Prägung und bekannten Managementkonzepten, die eine relativ stabile und vor allen Dingen planbare (Unternehmens-)Welt voraussetzen. Diese Managementkonzepte sehen die Rolle der Führungskraft hauptsächlich darin, Ziele vorzugeben, zu planen, zu koordinieren und zu standardisieren. So sind u. a. Erwartungen vom oberen Management und auch von den Mitarbeitern an Führungskräfte, dass diese für Stabilität und Ruhe sorgen, es richten, wenn es „brenzlig“ wird. Erwartungen an das obere Management von Führungskräften aus dem mittleren Management und Basis-Mitarbeitern sind häufig immer noch dergestalt, dass bestimmte einzelne Personen wie Helden die Organisation groß und mächtig machen und die Organisation durch die Schlacht der Globalisierung und Digitalisierung führen. Das Loslassen von hierarchischer Prägung bedeutet zu anderen (Vor-)Bildern zu kommen und damit zu anderen Haltungen und Verhaltensweisen. Es geht nicht darum, nicht mehr zu planen oder zu standardisieren. Es wird aber immer wichtiger, agil zu sein, da der Plan immer schneller von der Wirklichkeit abweicht. Es ist an dieser Stelle wichtig noch einmal hervorzuheben, dass es nicht darum geht, jede Art von Hierarchie aufzulösen, dass Selbststeuerung nicht gleich zu setzen ist, mit sich selbst überlassen sein oder alles basisdemokratisch zu entscheiden.
Dies bedeutet jedoch, sich auf andere Formen von Führung und Machtverteilung einzulassen, also weder der laute Held sein zu wollen oder müssen, auf den die Scheinwerfer gerichtet sind, noch als Retter von allen „geliebt“ zu werden. Dies bedeutet die Umkehr vom Führen im System, das häufig dafür sorgt, dass Mitarbeiter sich konform verhalten, dass klare Ansagen gemacht und Anreizsysteme geschaffen werden. Oder es überwiegt die Haltung, sich als Führungskraft permanent kümmern zu müssen und sich für alles verantwortlich zu fühlen oder zu sein. Unterstützt wird diese Art von Führung durch die Beurteilungskriterien, an denen die Leistung der Führungskräfte gemessen werden. Die Beurteilungskriterien sind oft daran gekoppelt, ob es der Führungskraft gelingt, dass sich Mitarbeiter „richtig“ verhalten und im Sinne der Organisation Leistung erbringen. Manchmal erscheint es fast so, als ob es ausschließlich am individuellen Führungsverhalten liegt und der Kontext und die Rahmenbedingen in der Organisation keine besondere Rolle spielen. Es stellt sich hier die Frage, ob es nicht funktionaler wäre, wenn Beurteilungskriterien sich auf die Art und das zur Verfügung stellen von Rahmenbedingen und Methoden fokussieren, die es ermöglichen, dass sich Mitarbeiter einbringen und ihre Ressourcen entfalten können. Oder, wie schon von einigen Organisationen vorgelebt wird, auf klassische Beurteilungssysteme zu verzichten. Dialogische Formen von gegenseitigen Resonanzen oder gemeinsamer partizipativer Auswertung von Führungs- wie Mitarbeiterleistung und -verhalten haben sich beispielsweise bewährt.
Hin zu einer neuen Art der Führung am System, das heißt Strukturen zu schaffen, in denen möglichst viele Mitarbeiter gestaltend und eigenverantwortlich tätig sein können. So gilt es für Führungskräfte auf Augenhöhe zu agieren und für die Organisationsmitglieder auf Augenhöhe zu gestalten und sich eigenverantwortlich einzubringen. „Auf Augenhöhe zu führen bedeutet, die Menschen in der Organisation nicht als Ressource zu betrachten, sondern als freie und gleichwürdige Menschen anzuerkennen“1. Hierzu sei angemerkt, dass die Betrachtung auf einer individual psychologischen Ebene selbstverständlich zu kurz greift und die Möglichkeit von Führungskräften auch immer im Kontext der Organisation zu betrachten ist. Sollen Führungskräfte am System arbeiten, so braucht es Gestaltungsspielräume, in denen agile Formate erprobt werden und den jeweiligen Anforderungen der Organisation angepasst werden können. Ich teile jedoch mit vielen Organisationsmitgliedern und BeraterInnen die Ansicht, dass es in der Organisation Vorreiter, so etwas wie „agile Evangelisten“2aus der oberen Führungsebene geben sollte, die bereit sind, diese Art von Strukturen und Haltungen zuzulassen, um diese in der Organisation zu fördern.
Der große Held, der die Heldengeschichte schrieb, war gestern. Die/der heutige Facilitator ist ein verantwortungsvolle/r WeltbürgerIn, die/der Mensch und Umwelt achtet. Eine/r, die/der nicht aus einem dem Ego entspringenden, oft übersteigerten Selbstvertrauen handelt, sondern eine/r, die/der aus einem reflexiven Selbst-Bewusstsein abwägt und handelt.3
Wie im eigenen Inneren, so im Außen
Was heißt es, aus dem Ego zu handeln bzw. zu führen oder aus einem starken Ich?
Differenzieren wir bewusst zwischen dem Handeln aus dem Ego, aus dem Ich oder dem, was unser tiefstes Selbst ist? Sind wir uns unseres Selbst bewusst? Was gilt es zu tun und in der Organisation bereitzustellen, um eine Selbst-Bewusste Führung zu ermöglichen?
Menschen mit einem stabilen „Ich“ werden häufig folgendermaßen beschrieben: Sie trauen sich, ihren Weg zu gehen. Das bedeutet, sie wissen was sie wollen und was nicht, wofür sie stehen und wofür nicht. Sie trauen sich Widerstände zu äußern und auch Grenzen zu setzen. Ein starkes „Ich“ hat auch ein Nein. Dabei ist er/sie tolerant, moderat und kann verzeihen. Es sind Menschen, die authentisch und ehrlich wirken, eine klare Meinung haben und diese auch vertreten. Das starke „Ich“ ist auch aus Niederlagen und Enttäuschungen gewachsen. Durch die Reflexion, wie man aus Enttäuschungen, Fehlern und Niederlagen lernen kann. Jemand, der aus einem starken „Ich“ handelt, wird als verlässlicher Partner beschrieben, der zu Kompromissen bereit ist und Konflikte zu bewältigen versteht. Es sind Menschen die sich auf Beziehungen einlassen können, Nähe und Gefühle zulassen und auch zeigen können, ohne dabei grenzenlos zu werden oder sich selber dabei aufzugeben. Sie handeln autonom und wissen gleichzeitig um den Kontext, der sie umgibt und dessen Dynamiken und Wechselwirkungen. Sie erkennen somit die Möglichkeiten, aber auch die Grenzen des eigenen Handelns und des eigenen Gestaltens. Menschen können diese Fähigkeiten und Ressourcen (weiter)entwickeln. 4
Die immer wieder kehrende Reise zu sich selbst
So ist es Bestandteil eines reifen „Ich`s“, zu sich selber auf
Distanz gehen zu können und die eigenen Muster zu erkennen und zu
reflektieren; sich selbst zu erkennen, im Hinblick auf weiterführende
funktionale Verhaltensweisen, sowie auf dysfunktionale Verhaltensweisen.
Ob eigene Verhaltensweisen als funktional bzw. dysfunktional betrachtet
werden hängt davon ab, welches Bild ein Mensch z.B. in Bezug auf
Führung hat. Das reife „Ich“ reflektiert und hinterfragt eigene Muster
und Haltungen. Inwiefern ist dieses Bild auf Grund von Sozialisation
geprägt worden? Möchte ICH diesem Bild folgen oder beinhaltet es Werte,
die ich nicht teile? In welchem Kontext befinde ich mich als
Führungskraft und wie autonom kann ich in diesem Kontext sein? Wann
gelingt es mir in einem starken „Ich“ zu bleiben und wann nicht? Was
sind die eigenen Glaubenssätze, denen ich aus einem überkritischen
„Eltern-Ich“ folge? Was sind meine Glaubenssätze, wenn ich mich nicht
traue meine Meinung zu sagen? 5
In der agilen und selbststeuernden Organisation wird das Führen aber
auch das Mitgestalten aller Organisationsmitglieder aus einem starken
„Ich“ heraus zur Notwendigkeit. Dies bedeutet individuell die eigenen
Handlungsmuster in Bezug auf tatsächliche Übergabe und Übernahme von
Verantwortung zu hinterfragen. Leitfragen für Führungskräfte können
sein: Was ist mein Motiv als Führungskraft, dass ich führen möchte?
Welchem Bild folge ich? Was sind die Antreiber für mich, die mein Ego
stützen? Wann werde ich autoritär oder erhebe mich über andere? Wieviel
Wertschätzung kann ich mir selbst gegenüber und auch anderen gegenüber
zulassen? Gehe ich achtsam mit mir um? In welchen Situationen erlebe ich
mich als hilflos und wie kann ich diesen Situationen aus einem starken
„Ich“ begegnen? Wie gehe ich mit mir selbst um, wenn ich mich hilflos
fühle? Stellt mein organisationaler Rahmen einen Rahmen von Gestaltungs-
und Entscheidungsmöglichkeiten bereit? Wo und wie kann ich
mitgestalten? Wie unterscheide ich Anerkennung von Lob? Etc.
Das wiederholte Überwinden des eigenen Ego ist vielleicht die größte Herausforderung für Menschen in Organisationen, die auf dem Weg zu mehr Agilität und Selbststeuerung sind. Dieses Überwinden bedeutet für Organisationsmitglieder auf der einen Seite immer wieder der Frage nachzugehen, wie Macht in der Organisation ausgerichtet sein soll und auf der anderen Seite den eigenen Umgang mit Macht zu reflektieren. Aus einem Ego heraus zu agieren bedeutet, sich selber oft als verbissen und hart zu erleben. Als kompromisslos, unversöhnlich und gierig und dies zu rechtfertigen aus Vorurteilen heraus, an denen festgehalten wird. Wenn das Ego Oberhand hat, geht es stark um das individuelle Prestige und die eigenen materiellen Werte, darum, eigene Positionen zu sichern, sich anderen überlegen zu fühlen. Die individuelle Leistung, gekoppelt mit dem Drang besser zu sein und Recht haben zu wollen, steht im Vordergrund.
Das Ego sagt den Menschen nicht, wer sie wirklich sind. Es gilt sich seiner Selbst-Bewusst zu werden. Das wirkliche „Selbst“ ist mehr als das starke „Ich“. Es ist tiefer, spiritueller. Die Ergründung des „Selbst“, des tiefen Selbst-Bewusstseins, entzieht sich dem Rationalen und dem Wissen. Es ist ein Wissen aus eigener, tiefer Erfahrung, eine Fähigkeit, die sich aus einem Selbst-Erfahrungsprozess entwickelt. Es ist eine Reise zu sich selbst. „Ich trat ein und wusste nicht wo, und ich blieb auch ohne Wissen, alles Wissen übersteigend“ 6 Dies bedeutet eine Auseinandersetzung mit den eigenen Bedürfnissen, mit den eigenen Glaubenssätzen und „Antreibern“, mit der eigenen Prägung und der Verarbeitung bestimmter Lebenssituationen. Es bedeutet die Annahme und die Akzeptanz der verletzten, schwachen und/oder ungeliebten Seite des Selbst. Diese Art von Selbst-Bewusstsein bedeutet auch, sich selbst auszuhalten, nicht zu kompensieren, sondern weiter durch diesen intensiven Prozess durchzugehen. Das authentische Selbst besitzt die Fähigkeiten echte Partizipation und Wertschätzung zu praktizieren und den entgegengesetzten Tendenzen im Alltag zu begegnen und das eigene Selbst-Bewusstsein und den eigenen Selbst-Wert dabei aufrecht zu erhalten.7
Selbstreflexion in Organisationen zulassen und fördern
Organisationen auf dem Weg zur Selbststeuerung sind daher aufgefordert, einen Rahmen zur Selbstreflektion zur Verfügung zu stellen. Das betrifft auf der einen Seite die individuelle Selbstreflexion und auf der anderen Seite die organisationale Reflexion. Ist die Organisation für eine dauerhafte Selbstwahrnehmung, Selbstreflexion und Selbstbeobachtung ausgerichtet? 8Selbstreflexion braucht Abstand vom operationalen Tagesgeschäft. Man kann nicht gleichzeitig im Teich schwimmen und aus einer Metaebene auf den Teich schauen. Organisationen, die deklarieren keine Zeit für Reflexion zu haben, folgen der Metapher: „Wir haben keine Zeit die Axt zu schleifen, da wir in den Wald müssen, um Bäume zu fällen.“
Sich für Reflexion Zeit zu nehmen bedeutet sowohl individuell, wie auch als Team aus dem (operativen) Alltag heraus zu treten, Abstand zu gewinnen, sich durch bestimmte Leitfragen wesentlicher Themen anzunehmen und aus anderen Perspektiven zu betrachten. Dabei ist die Fähigkeit zu einem echten Dialog – nicht zu kontroversen Diskussionen – gefragt. Es gilt Zeit für Führungskräfte sowie Mitarbeiter bereitzustellen, in denen sie sich außerhalb des operativen Geschäfts bestimmten Fragen widmen können. In diesen Tagen oder Stunden gilt es nicht frei zu machen, sondern an anderen Orten durch Achtsamkeit und Ruhe zu einer neuen oder anderen Art der Betrachtung kommen zu können. Das kann in Form von meditativen Übungen passieren oder durch Bewegung z.B. in der Natur. Man kann sich seiner selbst bewusst werden, in dem man ohne Ablenkung, ohne Konversation mit laufenden inneren Fragen innehält.
Die Chance zum Wohle aller nutzen
Heute gibt es viele Beispiele von Führungskräften und Amtsträgern, die aus einem übersteigerten Selbstverständnis heraus führen. Dies offenbart ein schwaches, unterentwickeltes Ich, das mit Härte, Wut und Angriffen das eigene, verletzte Ich schützen will. Dennoch deutet einiges darauf hin, dass es auch Ansätze einer neuen bzw. anderen gesellschaftlichen Einsicht und Hinwendung zur Reflexion gibt.
Wir befinden uns in einer Zeit, in der Organisationen agiler werden, um sich schneller der Umwelt anpassen zu können. Folgt man den Modellen und Beschreibungen im Umgang mit der VUCA World, so setzt Agilität auf eine partizipative Machtverteilung. Es wird aus Rollen und Verantwortung heraus entschieden und nicht auf Grund einer individuellen Macht, die sich an Positionen festmacht und womöglich nur auf eigene Interessen fokussiert ist.
Dies bedeutet auf der organisationalen Ebene, sich den Fragen nach menschlichen Werten, Eigenverantwortung und Selbstreflexion zu öffnen. Dies stellt eine enorme Chance dar, da Organisationen einen großen Einfluss auf menschliche, wie globale Ressourcen haben.
1 H. Salzmann, Agilität und Augenhöhe, Trigon Themen, 02/2017 Seite 03
2Vortrag, Prof. Andreas Aulinger IOM, DGPM 2016, Berlin IHK
3Höcker Angelika, Business Hero, Gabal Verlag Offenbach, 2010
4Walch, Sylvester: Vom Ego zum Selbst, O.W. Barth Verlag München 2011
5Walch, Sylvester: Vom Ego zum Selbst, O.W. Barth Verlag München 2011
6Jäger, Grimm, Die Flöte des Unendlichen, Johannes vom Kreuz, Verlag Wege der Mystik,
2009 Holzkirchen
7H. Salzmann, Agilität und Augenhöhe, Trigon Themen, 02/2017 Seite 02
8Gergs, Hans-Joachim, Die Kunst zur kontinuierlichen Selbsterneuerung, Beltz Verlag
Weinheim, 2016