von Anja Boden und Sabine Riedel-Schönfeld

Überall, wo Menschen in Gruppen zusammen leben oder arbeiten, durchlaufen sie Entwicklungsphasen miteinander. Reibungen und Konflikte dabei sind kein Makel oder einfach Pech, sondern völlig normal und sogar gesund. Die Themenbreite reicht von Sachkonflikten, Wertekonflikte, Verteilungskonflikte, Rollenkonflikte bis hin zu Konflikten auf der Beziehungsebene.

Für die meisten Menschen sind Konflikte unangenehm, weil sie z.T. mit turbulenten Gefühlen (Angst, Wut) einhergehen und Einfluss nehmen auf das Verhalten: vermeiden, verdrängen, aussitzen, verschweigen oder Angriff. Dadurch werden Konflikte nicht bewältigt, sondern verstärken sich meistens. Emotionale Betroffenheit führt oft zu einem konzeptlosen Umgang damit.

Fehlende Konfliktkultur

Die Folgen unbearbeiteter Konflikte können mit Blick auf Mitarbeiter oder Führungskräfte Frust, fehlende Motivation, körperliche Symptome, innere Kündigungen sein. Mit Blick auf das Unternehmen können sie zu unangenehmen Betriebsklima, hohen Fehlzeiten, geringere Arbeitsproduktivität und Fluktuation führen und damit beträchtliche Kosten verursachen. Konflikte müssen im Unternehmen vor allem dann bearbeitet werden, wenn Mitarbeiter oder die Produktivität darunter leiden.

In vielen Unternehmen wird davon ausgegangen, dass Mitarbeiter vor allem auf einer Sachebene miteinander zu tun haben und unterschätzen emotionale Einflüsse. Mitarbeiter sind als ganze Menschen anwesend, auch wenn manche Organisationen davon ausgehen, nur deren Kompetenz für bestimmte Aufgaben eingekauft zu haben.

Wenn man Unternehmenskultur nicht nur einzig als Verhalten von Menschen betrachtet, stellt sich die Frage, was die tatsächlichen Ursachen für Störungen und Konflikte in Unternehmen ausmachen. Betrachtet man die Unternehmensstruktur, Prozesse und Hierarchien, ist die Frage nach Wechselwirkungen und Dynamiken dieser Komponenten interessant. Sind Rollen, Aufgaben und Verantwortungen klar definiert und transparent? Werden Konfliktursachen einzig und allein dem Verhalten bestimmter Personen zugeschrieben oder vielleicht mit den Rahmenbedingungen des Unternehmens in Verbindung gebracht? Wird in Dynamiken und Wechselwirkungen gedacht? Wird hierarchieübergreifen reflektiert?

Willkommenskultur zur Konfliktprävention, für Störungen und für Konflikte

Oft werden Konflikte erst dann konstruktiv angegangen, wenn sie so viel Kraft und Ressourcen verbrauchen oder eskalieren, dass es nicht mehr anders geht. Viele Unternehmen haben nicht genug Mut, Konflikte einzugestehen. Sie gelten immer noch als Makel statt als gesunde Normalität. Auf Webseiten von Mediatoren sind selten Referenzen von Unternehmen zu finden, weil sie nicht genannt werden wollen.

Hier ist ein Blick auf die Rolle von Führungskräften interessant. In hierarchisch organisierten Unternehmen wird die Verantwortung für das Konfliktmanagement weitgehend bei den Führungskräften gesehen. Sie sollen Spannungen und Konflikte durch geeignete Maßnahmen möglichst vermeiden oder lösen. Führungskräfte werden oft danach gemessen oder beurteilt, ob in ihrem Team bzw. in der Abteilung ungelöste Konflikte bestehen. Auch hier werden im Konfliktfalle vor allem die Personen, hier die Führungskräfte ins Visier genommen. Dabei können Dynamiken entstehen, die die Störungen und Konflikte unter den Tisch kehren. Hilfreicher wäre es, darüber zu reflektieren und den Konflikt nicht als Makel einer Person zuzuschreiben, sondern zu hinterfragen, auf welche störende oder konfliktfördernde Muster der Organisation ein Konflikt hinweist.

Störungen und Konflikte haben wertvolle Hinweisfunktionen

Störungen und Konflikte haben wertvolle Hinweisfunktionen. Sehr oft sind Konflikte zwischen Mitarbeitern eine Folge von unzureichend definierten Abläufen, Rollen, Strukturen, eine Folge von ungünstigen Entscheidungen, unklaren Wertvorstellungen (Leitbildern) oder störenden Mustern im Unternehmen. In diesem Sinne zeigen Konflikte kleine oder große „Baustellen“ für die Personal-, Führungskräfte- oder Organisationsentwicklung.

Wenn ein Konflikt als die Spitze eines Eisberges verstanden wird, helfen Mediatoren und Organisationsberater zu erforschen, was sich unter der Wasseroberfläche befindet. Welche Strukturen, Prozesse, kulturelle Gegebenheiten im Unternehmen fördern konfliktäres Verhalten der Mitarbeiter? Es lohnt sich, das herauszufinden. Warum?

Die Bearbeitung von Konflikten schafft neue Vielfalt und trägt damit zum Erhalt oder dem „Überleben“ von Unternehmen, Projekten, Beziehungen bei.

Unter den Mitarbeitern bieten Konflikte konkrete Ansätze für Austausch, Verständigung, zum gegenseitigen besseren Kennenlernen. Sie erzeugen Druck oder stärken die Bereitschaft zur Veränderung. Die konstruktive Beschäftigung mit Konfliktklärungen fördert idealweise Lebendigkeit und Kreativität unter den Mitarbeitern und „bildet weiter“, wenn zu den bekannten Lösungsideen völlig neue Alternativen entwickelt werden.

Konfliktbearbeitung bringt Übung in der Reflexion des gemeinsamen Handelns und der Kommunikation. Sie schulen die Gesprächs- und Konfliktfähigkeit, wenn Organisationen solche Vorgehensweisen, anerkennen, erlauben und einen Rahmen dafür bieten.

In diesem Sinne sind konfliktfreie Unternehmen nicht ideal oder sogar fragwürdig. Man könnte sie mit Komapatienten vergleichen. Koma ist ein Zustand tiefer Bewusstlosigkeit, bei dem die normalen Reflexe außer Gefecht sind. Wenn in einem Unternehmen behauptet wird, es gibt keine Konflikte, dann lohnt es sich, genauer hinzuschauen!

Konfliktursache ist nicht ausschließlich individuelles Verhalten – ein Beispiel

Für eine wichtige Entscheidung im Unternehmen wird ein Meeting einberufen. Anwesend sind ein Projektleiter, ein Controller, Vertriebsmitarbeiter, Mitarbeiter der Personalabteilung und der Arbeitnehmervertretung. Eine Einigung kommt nicht zustande. Warum? Die Entscheidungsvorlage wird von jeden Anwesenden aus der jeweiligen Rolle und Verantwortung heraus betrachtet. Aus den unterschiedlichen Rollen ergeben sich unterschiedliche Interessen und Bedürfnisse. Es beginnt ein Kampf um Positionen. Jeder versucht den anderen von der eigenen Sichtweise zu überzeugen. Für einen Kompromiss müssen Beteiligte ihre Interessen stark einschränken oder ganz aufgeben. Es kommt zu Zuschreibungen wie „einige von uns sind eben nicht bereit, auf die anderen einzugehen“. Es entstehen Konflikte auf der Beziehungsebene und die Annahme, die „Chemie“ stimmt nicht. Es besteht die Gefahr, dass sich diese dysfunktionalen Abläufe chronifizieren.

Wir haben hier mit der Methode des „Integrativen Entscheidungsweges“ gearbeitet, die in Form eines definierten Ablaufs es ermöglicht, integrative Lösungen zu schaffen. Wir haben sie in einem frühere Blogartikel beschrieben.
In dieser Methode werden die Einwände der Beteiligten zugelassen und hinterfragt, aus welcher Rollenverantwortung der Einwand stammt. Es handelt sich hierbei nicht um Basisdemokratie sondern um einen Konsent. Bewährt sich die Methode ist zu beobachten, dass sich auch der Umgang auf der sozialen Ebene miteinander stark verändert.

Klassisches Konfliktmanagement in Organisationen

Tatsächlich sind nicht Konflikte die Schwierigkeit, sondern der Umgang damit. Was ist tun, damit das konkrete Entwicklungspotential, das Konflikte aufzeigen, genutzt werden kann?

Konfliktmanagement ist ein Führungs- und Steuerungsinstrument und braucht Strukturen. Bis heute besteht Konfliktmanagement meistens in größeren Unternehmen und Organisationen aus einer Mischung von verschiedenen internen oder externen Angeboten.

Mediation und Konfliktberatung können durch interne Mediatoren (Mediatoren-Pools) oder andere Konfliktanlaufstellen wie betriebliche Konfliktlotsen, Mobbing-Beauftragte, Gleichstellungsbeauftragte o.a. angeboten werden. Die Mitarbeiter in diesen Rollen haben meistens eine entsprechende Zusatzqualifikation. Mediation und Konfliktcoaching können andererseits auch durch externe Berater angeboten werden.

Die Führungskräfte werden ggf. zusätzlich durch Konfliktcoachs für das Konfliktmanagement in Unternehmen fit gemacht und ihre Kompetenzen hinsichtlich Kommunikation, Toleranzfähigkeit, Erfassung von sozialen Dynamiken) gestärkt. Idealerweise ist Konfliktmanagement Bestandteil der Vorbereitung auf eine Führungsposition oder Bestandteil von Führungskräfteentwicklungen.

Damit ist in hierarchischen Unternehmen auch das Konfliktmanagement hierarchisch organisiert. Auf der einen Seite stehen Spezialisten für das Konfliktmanagement (Führungskräfte, interne oder externe Mediatoren, Berater etc.). Auf der anderen Seite stehen die Mitarbeitern als Laien im Umgang mit Konflikten. Denn selten gehört es zu einer Berufsausbildung, Konflikte im Beruf zu lösen.

Die Konfliktlösekompetenzen sind ein „elitäres“ Expertenwissen von wenigen Mitarbeitern. Eher wenige „Spezialisten“ mit Konfliktklärungs- oder Konfliktberatungskompetenz stehen einer größeren Zahl von Mitarbeitern gegenüber. Diese Verteilung erweckt auch den Anschein, dass Konfliktlösekompetenz eher selten gebraucht wird. Hierbei wird von den Mitarbeitern die Schwelle als hoch empfunden, sich bei Konflikten überhaupt Unterstützung zu holen.

Konfliktprävention in agilen Unternehmen

Mehr Selbstorganisation, Eigenverantwortung und Mitarbeiterbeteiligung führen häufig zu mehr Austausch, mehr Kommunikation, und damit auch zu mehr Reibung und somit mehr Interaktion auf sozialer Ebene. Es bestehen Strukturen, in der Macht und Entscheidungsbefugnisse nicht an Hierarchie gebunden sind, sondern sich nach Aufgaben und an der übernommenen Verantwortungen orientiert. Agile Organisationsformen vermindern oft nicht das Konfliktpotenzial sondern erweitern es sogar häufig, gerade dann wenn Organisationen auf dem Weg zur mehr Agilität und Selbststeuerung sind.

Ist das gut oder schlecht? Auch hier ist es eine Frage der Haltung. Agile Strukturen brauchen mehr Auseinandersetzungen und Raum für Klärungen, Ideen, Lösungen. Das unterstützt die gewollte Eigenschaft und Fähigkeit dieser Unternehmen, schnell und flexibel auf Ereignisse, Kundenwünsche etc. reagieren zu können.

Laloux beschreibt das Konfliktmanagementmodell „Direkt kommunizieren und eine Übereinkunft erreichen“, dass er so ähnlich in mehreren analysierten selbstführenden Unternehmen gefunden hat (Laloux S.114).

Der Prozess beginnt im ersten Schritt damit, dass ein Mitarbeiter einen anderen bittet, zu einer Übereinkunft zu kommen. Zuerst setzen sich die beiden zusammen und versuchen das Problem unter sich zu lösen. Wenn sie nicht zu einer Übereinkunft kommen, bitten sie in einem zweiten Schritt einen weiteren Kollegen als Vermittler dazu zu kommen. Dieser Kollege unterstützt, eine Lösung zu finden, wird aber keine Lösung vorschreiben.

Wenn die Vermittlung zu dritt nicht gelingt, wird ein Gremium von Kollegen versammelt, die von dem Problem betroffen sind. Ihre Rolle besteht darin, zu zuhören und bei der Formulierung der Übereinkunft zu helfen. Das Gremium kann selbst keine Entscheidung vorgeben, hat aber meistens so viel moralisches Gewicht, dass in diesem Rahmen eine Übereinkunft getroffen werden kann. In einem letzten Schritt könnte der Unternehmensinhaber, Gründer, Direktor hinzugezogen werden, um das moralische Gewicht des Gremiums zu verstärken.

Konfliktlösung wird hier auch als grundlegendes Element der ineinandergreifenden Praktiken der Selbstführung verstanden (Laloux S.115). Sie ist ein Mechanismus, durch welchen sich die Kollegen gegenseitig an ihre Verpflichtungen erinnern.

Wenn jemand in einem herkömmlichen Unternehmen seine Leistung nicht bringt, murren und beklagen sich häufig die Kollegen untereinander, überlassen es die Kollegen der Führungskraft etwas zu unternehmen. Hier müssen die Mitarbeiter selbst aktiv werden, sprechen selber die Themen mit den betreffenden Mitarbeiter an.

Laloux berichtet auch, dass es schwierig sein kann, diese fundamental wichtige Praxis zu implementieren und aufrecht zu erhalten. Als Grundlage braucht diese Vorgehendweise der Konfliktbearbeitung im Unternehmen eine Kultur, bei der sich die Mitarbeiter sicher und ermächtigt fühlen, einander an ihre Verpflichtungen zu erinnern oder andere Schwierigkeiten mit den betroffenen Personen anzusprechen. Ein klar beschriebener und im Sinne einer Spielregel vereinbarter Prozess zur Konfliktlösung legitimiert diese Vorgehensweise.

Agilität fördert bei Mitarbeitern passende Kommunikationsfähigkeiten und Kommunikationsstrukturen, die gut und effizient gestaltet sein wollen. Bei Laloux werden Unternehmen beschrieben, in denen Mitarbeiter bei Eintritt eine Schulung in Konfliktlösekompetenz bekommen. Diese Fähigkeit ist damit kein elitäres Wissen, sondern wird jedem Mitarbeiter zugeschrieben. Die Art des Miteinander-Klärens an der Basis braucht im Vergleich zum Umgang in hierarchischen Unternehmen mehr Zeit und Ressourcen.

Die Konfliktkompetenz aller Mitarbeiter hilft, Konflikte frühzeitiger anzusprechen, bevor sie mehr eskalieren. Konflikte können niedrigschwelliger bearbeitet werden. Diese Ermächtigung bringt die Mitarbeiter in die Situation, Konfliktklärungen selber zu praktizieren, sie erleben es am eigenen Leibe und sammeln Erfahrungen damit, die ihnen über die berufliche Arbeit hinaus nützlich sind, sie reifen lassen und weiser werden lassen im Umgang mit Menschen und Konflikten.

Agile Organisationen fördern stärker Partizipation, die auf Vertrauen, Freiwilligkeit und Präsenz beruht. Soll dies gelingen, braucht es u. a. einen klaren Rahmen, Räume zur Reflexion und agile Methoden wie z.B. der integrative Entscheidungsweg.

In unserem nächsten Blogbeitrag werden wir über weitere Prinzipien der Selbststeuerung und über Dialogformate berichten.

Literatur:

  • Frederic Laloux (2015): Reinventing Organizations: Ein Leitfaden zur Gestaltung sinnstiftender Form der Zusammenarbeit, Verlag Franz Vahlen GmbH
  • Glasl F. (2013): Konfliktmanagement: Ein Handbuch für Führungskräfte, Beraterinnen und Berater, 11. Auflage, Verlag Freies Geistesleben
  • Gloger B., Rösner D. (2014): Selbstorganisation braucht Führung. Die einfachen Geheimnisse agilen Managements, Hanser Verlag
  • Gergs, Hans-Joachim (2016): Die Kunst der kontinuierlichen Selbsterneuerung: Acht Prinzipien für ein neues Change Management, Beltz