In unseren Ohren klang das spannend – und das war es auch.
Im ersten Gespräch zeigte sich folgendes Bild:
- Beide Organisationen sind seit langem im Feld der Beratung tätig mit dem Schwerpunkt soziale Innovationen in die ländlichen Regionen zu bringen.
- Beide Organisationen kennen sich seit vielen Jahren. Sie haben in Projekten immer wieder miteinander kooperiert und zusammengearbeitet.
- Beide Organisationen sind durch gegensätzliche Organisationskulturen geprägt.
Organisation 1 verkörpert den Typus nach Hierarchie ausgerichtet und strukturiert und war inhabergeführt. Der Inhaber hatte konkrete Ideen, wie Dinge umgesetzt und angegangen werden. So wurden z.B. direkte Ansagen gemacht, wie, was gemacht werden sollte. Dies gab den Mitarbeitern eine klare Orientierung, einen starken Rahmen, der Orientierung und Sicherheit bot. Der Nachteil war, dass Eigeninitiative, Innovationen und Kreativität in Bezug auf neue Projekte und Projektumsetzung etc. sehr wenig vorhanden waren und durch diese Struktur nicht gefördert und unterstützt wurden.
Organisation 2 verkörpert den Typus freiheitlich denkend.
Die Organisation zeichnete sich durch ihren familiären Charakter aus. Selbststeuerung wurde in Form von auf Zuruf über den Schreibtisch praktiziert. Alle redeten bei allem mit und Entscheidungen wurden gemeinsam getroffen. Es ging in Grunde genommen basisdemokratisch im Sinne eines Kollektivs oder einer Kommune zu. Hier lag der Vorteil darin, dass die Mitarbeiter durch eine hohe Identifikation eine psychologische Miteigentümerschaft also eine sehr starke Bindung zur Organisation hatten. Als nachteilig erwies sich, alles mit allen zu bereden und einvernehmlich zu Entscheidungen zu kommen. Dies erfordert sehr viel Zeit, bindet Ressourcen und steht im Gegensatz dazu, dass die Situation zu der eine Entscheidung getroffen werden soll, sich dann oftmals schon wieder geändert hat, wenn die Organisation dann zu einer Entscheidung gekommen ist.

Die Idee eine Organisation zu werden, entstand aus den Annahmen heraus gemeinsam eine noch eine größere Wirkungskraft zu entfalten, gemeinsam sichtbarer am Markt zu sein, gemeinsam die Möglichkeit zu haben größere Projekte zu begleiten, gemeinsam die wirtschaftlichen Herausforderungen besser schultern zu können und nicht zuletzt verwaltungsrelevanten Aufgaben in einer Hand zu bündeln.
Wie begann diese Idee Wirklichkeit zu werden?
Beide Organisationen gingen mit ihren Mitgliedern in Gespräche und überlegten gemeinsam, wie die zukünftige Organisation sein soll, welche Schritte dazu notwendig sind und wie eine zukünftige gemeinsame Organisationsstruktur und die gemeinsame Zusammenarbeit gestaltet werden könnte. Wunsch aller Organisationsmitglieder war es eine selbststeuernde und agile Organisation zu schaffen, die auf der einen Seite kollaborative und partizipative Strukturen und Formate beinhalten sollte, jedoch auch zeit- und zielorientiert Entscheidungen zu ermöglichen und auf der anderen Seite auch Orientierung, Sicherheit in Form eines klaren Rahmen bietet.
Nach eineinhalb Jahren intensivem Austausch fusionierten beide Unternehmen und es war eine erste Organisationsstruktur entwickelt. Die Organisation hatte sich für eine Kreisstruktur entschieden. Die Kreisstruktur umfasste unterschiedliche Kreise, die als „Projektgruppen“, „Themenkreise“ und „Koordinierungskreis“ benannt wurden. Relativ klar war durch welche Inhalte und Aufgaben sich die unterschiedlichen Kreise auszeichnen und auch abgrenzen und dass sie gleichwertig nebeneinander stehen.

Aber es gab noch keine Formate, keine Meetingstruktur, die dem Wunsch nach kollaborativer und partizipativer Zusammenarbeit sowie nach Sicherheit und Orientierung in einem klaren Rahmen gerecht wurden. Ebenso war noch unklar, wie die Organisationsmitglieder zukünftig Entscheidungen treffen wollen und was die neue Struktur bezogen auf Verantwortungsübernahme und -übergabe bedeutet.
An diesem Punkt kamen wir ins Spiel.
Beide Organisationen sahen sich an dem Punkt, wo die gemeinsamen Gespräche, die Diskussionen wie Agilität und Selbststeuerung gelebt werden soll nicht mehr fruchtbar waren und sich wieder und wieder das Muster zeigte, zu reden, alles mögliche zu bedenken, aber nicht wirklich in konkrete Handlungen zu kommen.
Das an uns gerichtete Anliegen lässt sich wie folgt beschreiben:
Wie lassen sich die unterschiedlichen Organisationskulturen zusammenbringen und was braucht es, damit sich beide Organisationen und deren Mitglieder innerhalb der bisher angedachten Struktur wirklich zu einer selbstverantwortlichen und agilen Organisation entwickeln? Welche konkreten agilen Formate und Meetingstrukturen sind sinnvoll und funktional, um das Anliegen zu unterstützen?
Interessant war zu erleben, dass beide Organisationen von sich das Bild hatten, bereits sehr selbstverantwortlich und agil zu arbeiten – und sich innerhalb des Prozesses ein anderes Bild ergab. Organisation 2 war von ihrem Selbstverständnis frei denkend eigenverantwortlich und in der Tradition von Basisdemokratie einer Kommune unterwegs. Organisation 1 sehr hierarchisch mit dem Bedürfnis, dass es doch eine übergeordnete Instanz geben muss, die den Hut auf hat, kontrolliert etc. Wir hatten es also mit einem Wandel zweiter Ordnung zu tun, es ging um echte Transformation, einen Wechsel der Bezugsrahmen, die bisher gelebt wurden.

Selbststeuerung und Agilität wurde gelebt, indem z.B. der Zuruf über den Schreibtisch praktiziert wurde, Dinge mit allen gemeinsam besprochen und Entscheidungen möglichst gemeinsam im Einverständnis aller entschieden wurden. Es war mehr eine Einstellung, eine gemeinsame Geisteshaltung nach der agiert wurde. Konkrete Formate und eine Meetingstruktur , die Selbstverantwortung fördern und unterstützen ebenso Formate zu Entscheidungsfindungen und Räume für Reflektion, die Selbststeuerung und Agilität einen erkennbaren Rahmen geben, waren nicht vorhanden.

Absolut positiv, extrem motivierend und für den Prozess sehr hilfreich war die Tatsache, dass ausnahmslos alle Mitglieder beider Organisationen diesen Weg gehen wollten.
In einem ersten Konstituierungsworkshop, an dem alle Organisationsmitgliedern teilnahmen wurde dies deutlich. Durch die Auseinandersetzung mit den Fragen, was ist das gemeinsame Verständnis von Agilität und Selbststeuerung und was soll in Zukunft gelebt werden, stand am Ende des Workshops ein gemeinsames Commitment aller Beteiligten für den weiteren Weg.
Es wurde eine Prozessarchitektur erstellt, die mit den Organisationen partizipativ angepasst und verabschiedet wurde. Die gemeinsam entwickelte Kreisstruktur der Organisation wurde nun durch passgenaue Formate und Meetingstrukturen weiterentwickelt. Die konkrete Umsetzung erfolgte durch die Einführung agiler Strukturen und Methoden, die sofort bei laufendem Motor im konkreten Arbeitsalltag angewendet und iterativ durch Erfahrung und organisationales Lernen angepasst wurden.
Nun galt es noch die Fragen zu klären: Wie wollen und müssen wir in Zukunft Entscheidungen treffen und wie müssen wir Verantwortung übernehmen und auch übergeben, wenn wir uns als selbststeuernde und agile Organisation verstehen?
Die Organisationsmitglieder trafen im Sinne ihres Wunsches eine wirklich selbststeuernde und agile Organisation zu werden die folgerichtige, konsequente Entscheidung die Verantwortung tatsächlich in die Kreise zu geben, d.h. Entscheidungen werden dort getroffen, wo sie konkret anfallen und die Organisationsmitglieder mit den Auswirkung dieser Entscheidung leben müssen.
Ein Projekt braucht z.B. eine/n neuen MitarbeiterIn, d.h. die Projektgruppe übernimmt die Auswahl der Bewerber, führt die Gespräch durch und trifft die Entscheidung über die Einstellung als Projektgruppe und trägt damit auch die Verantwortung.
Im weiteren Verlauf war es toll zu erleben, welche Kraft ein Prozess entfalten kann, wenn ihn tatsächlich alle wollen und es wirklich ein gemeinsam getragenes Commitment gibt.
Das bedeutet keineswegs das alles rund läuft und immer harmonisch ist. Selbstverständlich gab es unterschiedliche Perspektiven, Wünsche, Ideen, unterschiedliche Annahmen darüber, was wirksam ist. Aber das gemeinsam getragene Commitment ermöglichte immer wieder eine erste gangbare Lösung zu finden, ein Experiment zu wagen mit dem im Alltag bei laufendem Motor gearbeitet werden konnte. Dies wiederum ermöglichte allen Organisationsmitgliedern zu erleben, was Selbstverantwortung und Agilität im ganz konkreten Organisationsalltag tatsächlich bedeutet und welche Emotionen damit einhergehen können, sowohl herausfordernder als auch befreiender Natur.
Sehr spannend war es zu erleben, wie trotz der Tatsache, dass alle Beteiligten wirklich wollten, sich Selbststeuerung und Agilität nicht so schnell umsetzten wie gedacht. In der Betrachtung dessen, was da am Wirken war, stießen wir auf Einflussfaktoren, die sich als organisationale Superdualitäten bezeichnen lassen. Organisationale Superdualitäten sind zwei konträre Pole hier gespeist aus den unterschiedlichen Kulturen beider Organisationen, die jeder für sich einen unterschiedlichen Bezugsrahmen haben und brauchen, um ihre Wirkungsweise zu entfalten.
Organisationale Superdualitäten, die in dieser Organisation zum Tragen kamen:

Aufgrund der langjährigen Prägung und Ausbildung unterschiedlicher Organisationskulturen wirkten sie natürlich auf unterschiedlicher Weise auf alle Organisationsmitglieder ein und ließen deutlich werden, wo sozusagen der Teufel im Detail steckte und das Selbstverantwortung und Agilität nicht einfach verordnet oder sich vorgenommen werden können. Sondern dass es neben einem klaren Commitment, immer wieder die Bereitschaft braucht, achtsam zu sein, zu schauen und zu reflektieren, wo sich alte Muster, Gewohnheiten Bahn brechen wollen und diese Muster konsequent zu benennen und sich bewusst dagegen zu entscheiden. Konkret heißt das, sich an die vereinbarten Formate der agilen Methoden zu halten und sie in dem dafür vorgesehenen Raum in ihrer Wirksamkeit und ihrem Nutzen zu reflektieren und erst danach iterativ anzupassen. Dass bedeutete die Superdualitäten und damit die vorhandenen Ambivalenzen nicht zu ignorieren, bzw. zu übergehen, sondern diese zu thematisieren. Lösungen zu erarbeiten, wie mit diesen umgegangen werden soll? Immer wieder zu reflektieren, welche Muster gilt es zu eliminieren, was soll anders gelebt werden ? Konkret zeigten sich diese organisationalen Superdualitäten zum einen in Aussagen wie z.B. „Ich verteile dann mal die heutigen Aufgaben“ oder „Jemand muss dann ja entscheiden, wer für die Weiterbildung geeignet ist“. Zum anderen zeigten sie sich auch in alten, gewohnten Mustern, die sich leise wieder einschlichen, indem wieder lang geredet wurde, Entscheidungen vertagt, keine konkreten Handlungsschritte vereinbart wurden oder nach den letztlichen Verantwortungsträgern gefragt wurde. Wichtig ist hier zu betonen, dass dies nicht mit Absicht geschah, sondern es eine Tendenz in Systemen ist in alte Muster zurückzufallen und genau dafür braucht es Aufmerksamkeit, Bewussheit und die Bereitschaft hinzuschauen, zu benennen und konsequent den neuen Weg zu verfolgen.
Wird dies konsequent gelebt, kann sich eine Organisation tatsächlich zu einer selbststeuernden und agilen Organisation entwickeln. In der Folge steht ihr die daraus resultierende Energie gewinnbringend zur Verfügung.
An dieser Stelle ein herzliches Dank. Es hat uns viel Spaß gemacht Sie zu begleiten.
Bildquellen: Fotos, pixabay, Illustrationen für SUB von Elke Halberstadt, Comicgestaltung.de